„Raum existiert gar nicht, er ist nur eine Metapher für die Strukturen unseres Daseins“ – Louise Bourgeois
Sie lebte in Brooklyn, noch ehe das New Yorker Stadtviertel zum Hipster-Mekka erkoren und eine Monatsmiete dort unerschwinglich wurde. Überhaupt hatte Louise Joséphine Bourgeois, 1911 in Paris geboren, vor allem eines: ihre ganz eigene Vision vom Leben und von der Kunst. She followed her own drummer, würden die Amerikaner über die klassisch studierte Bildhauerin aus einer bürgerlichen Familie sagen, die mit ihren Skulpturen und Installationen in der Neuen Welt und von dort aus auch auf internationalem Parkett Weltruhm und Respekt erlangte: Sie ließ sich von niemandem etwas vorschreiben.
Als erste Frau verband sie mehrere Werke zu Räumen, die den Besucher zum Entdecker und Voyeur machen. Bis zu ihrem Tod 2010 in Chelsea blieb sie sich und ihrer Sicht der Dinge treu: Als sie ihr Atelier in Brooklyn 2008 räumen musste – Bourgeois lebte zu diesem Zeitpunkt seit 70 Jahren im Big Apple –, integrierte sie dessen Wendeltreppe prompt in eine ihrer letzten sogenannten Zellen mit dem Titel „The Last Climb“.
Ein großer Querschnitt ihres einzigartigen, bizarren, verstörenden Schaffens ist noch bis zum 2. August in der Ausstellung „Louise Bourgeois – Strukturen des Daseins: Die Zellen“ im Münchener Haus der Kunst zu sehen.
Sie vergebe und vergesse nie, beschrieb Louise Bourgeois einmal die Essenz ihrer Arbeiten. Keimzelle dieser kreativ ausgelebten Maxime war ihrem eigenen Bekunden nach das angespannte Verhältnis zum Vater, der sich wenig aus ihr machte und das Mädchen seine Antipathie bei jeder Gelegenheit spüren ließ. „Wenn ein Junge geboren wird, dann ist die Familie glücklich. Wenn ein Mädchen geboren wird, dann findet man sich damit ab, man toleriert die Tatsache“, sagte die Künstlerin dazu im Interview.
Ihre Flucht schon damals: die Kunst. Aus Brot formte sie am Esstisch erste kleine Objekte, die den Vater symbolisieren sollten und die sie anschließend zerstörte oder schlicht aß. Ihr Oeuvre enthält viele Werke zum Thema Zerstörung des Vaters; die ebenfalls oft auftauchende Spinne repräsentiert ihre Mutter, die von Beruf Weberin war. Zu ihr hatte Louise ein so inniges Verhältnis, dass sie nach deren Tod versuchte, sich das Leben zu nehmen. Die Aufarbeitung ihrer Kindheit und Jugend in ihrer Kunst setzte sich auch in New York fort, wohin sie von Paris aus mit ihrem Mann Robert Goldwater 1938 emigrierte. Die Familie wurde alsbald ergänzt durch Adoptivsohn Michel und die eigenen Kinder Jean-Louis und Alain.
„Das Werk von Louise Bourgeois geht unter die Haut. Faszinierend ist besonders ihr Umgang mit der Farbe Rot – in welchem Kontext auch immer sie diese Farbe benutzt, man spürt Leben, Blut und Weiblichkeit“ – Andrea Karg
Die Ausstellung zeigt Skulpturen, Zeichnungen und natürlich die besagten Zellen („Cells“), eine Serie von architektonischen Räumen, die ein ganzes Spektrum von Gefühlen eröffnen und in einem Zeitraum von mehr als 20 Jahren entstanden. Jede Zelle ist wie ein eigener Mikrokosmos: ein Gehäuse, das die Innenwelt von der Außenwelt trennt. Darin komponiert Bourgeois mit gefundenen Gegenständen, Kleidungsstücken oder Stoffen, Mobiliar und markanten Skulpturen theaterähnliche Szenerien. Die gesamte Arbeit kreist um den Wunsch, sich zu erinnern und gleichzeitig zu vergessen. „Du musst deine Geschichte erzählen und sie dann vergessen. Vergessen und vergeben. Das befreit dich“, hat Louise Bourgeois ihre Intention einmal umrissen.
Unser Fazit: So viele Stücke ihres Schaffens waren noch nie zuvor an einem Ort zu sehen. Nicht verpassen!
Fotos: Peter Bellamy und Frédéric Delpech für The Easton Foundation/VG Bild-Kunst, Bonn 2015